Arbeitsschutzmanagementsysteme in der Zukunft – Was kommt mit und nach der DIN ISO 45001?

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von Markus Kohn und Freeric Meier zuletzt geändert: 2021-02-19T14:59:53+01:00
Seit mittlerweile zwei Jahren ist die DIN ISO 45001 zu Managementsystemen für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit (AMS) Bestandteil des deutschen Normenwerks. Gänzlich neu ist die Norm für Unternehmen in Deutschland damit nicht mehr, zumal erste betriebliche Umsetzungen und Zertifizierungen bereits erfolgt sind. Es verbleiben jedoch auch weiterhin Fragen zur Einbettung von AMS in vorhandene betriebliche Managementsysteme, zur strategischen Gesamtausrichtung von AMS und verwandten Systemen in Deutschland und auf internationaler Ebene, sowie nach den verschiedenen Optionen, die sich für Unternehmen in diesem Kontext ergeben. Dies soll Gegenstand des folgenden Beitrags sein. (Markus Kohn und Freeric Meier)

1. Einführung

 Im März 2018 veröffentlichte die International Organization for Standardization (ISO) die neue Norm ISO 45001 mit dem Titel „Occupational health and safety management systems – Requirements with guidance for use“, zeitgleich erfolgte die Veröffentlichung auch als deutsche Norm.

Auf den ersten Blick mag dies zunächst unspektakulär erscheinen und vielleicht auch in der Vielzahl neu erscheinender deutscher und internationaler Normen nicht weiter auffallen. Die neue Norm DIN ISO 45001 bringt jedoch einerseits durchaus neue Impulse in den betrieblichen Arbeitsschutz, kann anderseits aber auch zu einigen Unwägbarkeiten für den betrieblichen und den überbetrieblichen fachpolitischen Gesamtkontext zu AMS und verwandten Systemen in Deutschland führen, deren Auswirkungen auf längere Sicht nur bedingt vorhersehbar sind. Beide Aspekte werden daher im vorliegenden Beitrag näher beleuchtet. Auf inhaltliche Aspekte der Norm soll dabei nur im Rahmen des für den Gesamtzusammenhang Notwendigen eingegangen werden.

 

2. Normenpolitische Entwicklungshistorie

Vorangegangen war der erfolgreichen Entwicklung der Norm ISO 45001 eine mehr als zwei Jahrzehnte lange normenpolitische Entwicklung, ohne deren Kenntnis die bis dato international und insbesondere in Deutschland bestehende Situation zur Normung bzw. Standardisierung im Bereich Organisation des Arbeitsschutzes nur schwer nachzuvollziehen ist. Daher soll an dieser Stelle zunächst die Historie dieser normenpolitischen Entwicklung kurz nachgezeichnet werden.

 Der Genfer ISO-Workshop

An die Möglichkeit der Normung im Bereich Arbeitsschutzmanagementsysteme (AMS) wurde auf internationaler Ebene erstmals zu Beginn der 1990er Jahre in Verbindung mit den seinerzeit bereits existierenden Normungswerken zum Qualitäts- bzw. Umweltmanagement gedacht. ISO beschloss jedoch 1996 im Rahmen eines internationalen Workshops zu diesem Thema keine Normung im Bereich AMS durchzuführen. Gleichzeitig beauftragte sie die International Labour Organization (ILO), stattdessen einen unverbindlichen Leitfaden zu AMS zu entwickeln. Dieser Leitfaden erschien dann im Jahr 2001 unter dem Titel „Guidelines on occupational safety and health management systems“ (ILO 2001). Der ILO-Leitfaden enthält die Aufforderung an interessierte Länder, diesen jeweils in eine nationale Version umzusetzen.

AMS-Normung in Deutschland

Da der Arbeitsschutz in Deutschland umfassend gesetzlich geregelt und durch das duale System auf betrieblicher Ebene umgesetzt ist, steht Deutschland einer insbesondere internationalen Normung im Arbeitsschutz grundsätzlich kritisch gegenüber.

So veröffentlichten Bund, Länder, Unfallversicherung und Sozialpartner 1993 den „Gemeinsamen Deutscher Standpunkt (GDS) zur Normung im Bereich der auf Artikel 118a des EG-Vertrags gestützten Richtlinien“ (GDS 1993), der eine von Deutschland ausgehende Normung zum Arbeitsschutz ausschloss. Konsequenterweise war der GDS dann auch die Basis für die deutsche Ablehnung des Normungsvorhabens zu AMS bei ISO. In 2014 wurde der GDS durch das neue „Grundsatzpapier zur Rolle der Normung im betrieblichen Arbeitsschutz“ zunächst ergänzt und später ersetzt (BMAS 2015). Das Grundsatzpapier bekräftigt zwar die grundsätzliche Ablehnung von Normung zum betrieblichen Arbeitsschutz, lässt aber sachdienliche Ausnahmen gemäß einem gemeinsam vereinbarten Kriterienkatalog zu, sofern diese nicht im Widerspruch zu gesetzlichen bzw. UVT-rechtlichen Vorgaben stehen. Das Grundsatzpapier ermöglichte dann später die Zustimmung von deutscher Seite zur ISO-Norm.

Allerdings hatten sich in Deutschland die Institutionen des Arbeitsschutzes bereits im Juni 1997, also schon deutlich vor Veröffentlichung des ILO-Leitfadens, auf Eckpunkte für freiwillige und nicht auf Normung beruhende AMS verständigt (siehe VFA 1997, S. 95 ff.), die dann bei der Erarbeitung des sog. „Nationalen Leitfadens“ (BAUA 2002) als nationale Umsetzung des ILO-Leitfadens berücksichtigt wurden. Der Nationale Leitfaden (NLF) gilt als maßgebliches Dokument für AMS in Deutschland bis heute und ist Basis für die AMS der Länder und Unfallversicherungsträger.

Der Weg zur DIN ISO 45001

Trotz des ablehnenden Votums des ISO-Workshop 1996 gab es in der Nachfolge einige weitere erfolglose Versuche zur Normung von AMS. Schließlich hatte im Spätsommer 2013 ein weiterer Antrag seitens der British Standards Institution (BSI) dann doch Erfolg: ISO stimmte einem entsprechenden Antrag zur Entwicklung einer ISO-Norm zu. Der Startschuss zur Erarbeitung dieser neuen Norm unter der Nummer ISO 45001 erfolgte im Oktober 2013. Deutschland lehnte den Normungsantrag unter Berufung auf den GDS zunächst zwar ab, entschied sich jedoch zur aktiven Mitarbeit an der Entwicklung der Norm und, nach der faktischen Ablösung des GDS durch das „Grundsatzpapier“, letztendlich sogar zur Zustimmung zur fertigen Norm sowie zur Übernahme der ISO 45001 in das deutsche Normenwerk als DIN ISO 45001 mit dem Titel „Managementsysteme für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit – Anforderungen mit Anleitung zur Anwendung“.

3. Übersicht zu vorhandenen AMS-Standards in Deutschland

In Deutschland haben sich einige nationale und internationale Standards zu AMS bzw. mit Nähe zu AMS etabliert, die durchaus von Bedeutung für zukünftige fachpolitische Entwicklungen zum Themenfeld AMS hierzulande werden können.

Nationale Standards

Auf der Basis des National Leitfadens zu AMS haben einige Bundesländer sowie die Unfallversicherungsträger eigene Rahmenwerke zu betrieblichen AMS entwickelt, die aufgrund ihrer gemeinsamen Basis durchaus vergleichbar sind, sich jedoch in einigen branchenspezifischen Details unterscheiden: Von einigen Bundesländern werden die beiden Systeme OHRIS (Bayern, Sachsen, Saarland) und ASCA (Hessen) angeboten. Die Umsetzung dieser Systeme in Unternehmen wird von den jeweils zuständigen Ministerien bzw. Aufsichtsdiensten der Länder unterstützt und im Erfolgsfall beurkundet. Die Berufsgenossenschaften bieten die Systeme „Sicher mit System“, mit einer speziellen Ausprägung „AMS-Bau“ für den Baubereich sowie das System „quintas“ für den Gesundheitsbereich in Kombination mit einem Qualitätsmanagement an (Tabelle 1). Diese beruhen auf einem gemeinsamen Verfahrensgrundsatz (DGUV 2015), der seinerseits auf dem Nationalen Leitfaden basiert, unterliegen einem gemeinsamen Qualitätsmanagement und werden kontinuierlich und abgestimmt weiterentwickelt.

Name

Anbieter

Anzahl begutachteter Unternehmern

DAkkS-akkreditierter Standard

 

 

 

 

OHRIS [1]

Bayern, Sachsen, Saarland

ca. 360 (Stand 2020)

nein

ASCA [2]

Hessen

 

5 (Stand: 2016)

nein

SMS Sicher mit System

SVLFG, BGHM, VBG, BGHW, BG Verkehr, BG RCI, BGN, BG ETEM, BGW, UK BW, UV Bund und Bahn, UK Nord

 

1904 (Stand 2019)

nein

AMS Bau

BG Bau

 

1029 Stand 2019

nein

quintas

BGW

763 Stand 2019

ja [3]

Tabelle 1: AMS der Bundesländer und Unfallversicherungsträger (Stand: 2019)

Die Arbeitsschutzmanagementsysteme auf Basis des NLF werden seitens der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) besonders unterstützt: Verfügt ein Unternehmen über ein solches begutachtetes AMS, können die Aufsichtsdienste der Länder bzw. der Unfallversicherungsträger auf eine Überprüfung der Arbeitsschutzorganisation des betreffenden Unternehmens weitgehend verzichten. Für kommerzielle AMS-Zertifikate von Drittanbietern gilt dies dagegen nur sehr eingeschränkt [4].

Internationale Standards

Als Antwort auf die Ablehnung einer internationalen Normung von AMS durch ISO auf dem Genfer Workshop 1996 entwickelte die British Standards Institution (BSI) unter Beteiligung von Normungsorganisationen einiger weiterer Länder mit OHSAS 18001 einen eigenen nationalen Standard für AMS, der in der Folge allerdings auch weltweit große Verbreitung fand. Allein in Deutschland existierten in 2011, dem letzten Jahr der offiziellen Zählung durch BSI, etwas über 2800 Zertifikate. Mit der Veröffentlichung der internationalen Norm ISO 45001 in 2018 hat BSI den eigenen Standard OHSAS 18001 zurückgezogen. Neue Zertifikate wurden seitdem nicht mehr ausgestellt. Bis Ende September 2021 haben Unternehmen mit gültigem OHSAS 18001 – Zertifikat die Möglichkeit, vereinfacht auf ISO 45001 umzustellen, danach verlieren bestehende Zertifikate nach OHSAS 18001 ihre Gültigkeit. Zertifizierungen nach DIN ISO 45001 sind dann nur noch als vollständige Neuzertifizierung im Umfang einer Erstzertifizierung möglich.[5]

Zu AMS verwandte Standards

Neben den beschriebenen AMS-Standards existiert weltweit eine Anzahl anderer Standards mit mehr oder weniger Bezug zu AMS, von denen sich einige jedoch auch in Deutschland etabliert haben. An erster Stelle ist hier das „Safety Certificate Contractors (SCC)“ zu nennen, das einem AMS in vielen Aspekten recht nahekommt. SCC wurde Anfang der 1990er Jahre von der niederländischen Ölindustrie entwickelt, um einen Mindeststandard bezüglich Arbeits- und Umweltschutz bei Auftragnehmern (Contractors) der Ölindustrie sicherzustellen. Mittlerweile findet SCC branchenübergreifend und weltweit Verwendung. In Deutschland ist SCC ein bei der DAkkS akkreditierter Standard. Weltweit gibt es etwa 3.500 SCC-zertifizierte Auftragnehmer. [6]

Ein weiterer, noch recht neuer Standard ist die „Safety Culture Ladder (SCL)“. Sie wurde auf Basis des von Diana Parker und Patrick Hudson Anfang der 2000er Jahren empirisch entwickelten Reifegradmodells zur Sicherheitskultur in Unternehmen (Parker et al. 2006) entwickelt. Federführend für SCL in Deutschland ist der Übertragungsnetzbetreiber TenneT TSO GmbH. Da SCL-Zertifizierungen sehr aufwendig und teuer sind, hat die DGUV mit TenneT eine Vereinbarung getroffen, die es versicherten Unternehmen mit einem begutachtetem AMS der Unfallversicherungsträger ermöglicht, eine verkürzte SCL-Zertifizierung zu erhalten. [7]

 

4. Potentiale der AMS-Normung für den betrieblichen Arbeitsschutz

Unternehmen und Organisationen sind zwar durch das Arbeitsschutzgesetz und durch die DGUV Vorschrift 1 dazu verpflichtet, für eine angemessene Organisation des betrieblichen Arbeitsschutzes zu sorgen, jedoch ist hierfür weder eine Norm verbindlich, noch die Umsetzung eines AMS vorgeschrieben. Die Einführung eines AMS, egal ob auf Basis des Nationalen Leitfadens oder auf Basis der DIN ISO 45001, ist für Unternehmen freiwillig.

Neben den bereits bekannten Vorteilen, die ein AMS für das Unternehmen bedeutet kann (Bräunig et al. 2018), birgt insbesondere die neue Norm DIN ISO 45001 einiges Potential, das über die gesetzlichen Rahmenbedingungen und auch über die bisher vielfach übliche betriebliche Praxis hinausgeht.

Risiken und Chancen

Die Norm verwendet zwei Risiko-Begriffe: Zunächst einmal wird der im Arbeitsschutz schon klassische Risikobegriff benutzt, der unter Risiko die Kombination aus der Eintrittswahrscheinlichkeit und der möglichen Schwere der Verletzung oder Erkrankung versteht, das sog „SGA-Risiko“ [8]. Zusätzlich wird jedoch ein erweiterter Risikobegriff eingeführt, der unter Risiko allgemein die Auswirkung von Ungewissheit versteht.

Sind SGA-Risiken im wesentlich mit konkreten Arbeitstätigkeiten verbunden, können allgemeine Risiken auf allen politischen und organisatorischen Ebenen im Betrieb auftreten. Beide Arten von Risiken müssen in ihren jeweiligen Auswirkungen auf Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit bzw. auf das entsprechende Managementsystem betrachtet werden. Analog verhält es sich mit dem Chancenbegriff: SGA-Chancen dienen unmittelbar der Verbesserung von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit, allgemeine Chancen der Verbesserung von Prozessen auf allen Ebenen sofern ein Zusammenhang mit dem Arbeitsschutzmanagementsystem besteht.

Das ist eine zweifache Erweiterung des bisher üblichen klassischen Ansatzes: Einerseits vom rein risiko-basierten Vorgehen hin zu einem auch Chancen umfassenden Ansatz, und anderseits von der individuellen auf die organisatorische und politische Ebene im Betrieb.

Beschaffung

Die Norm legt zur Beschaffung die folgenden drei grundlegenden Prinzipien fest.

  • Die Organisation muss Prozesse zur Steuerung der Beschaffung von Produkten und Dienstleistungen festlegen, umsetzen und aufrechterhalten, um deren Konformität mit ihrem SGA-Managementsystem sicherzustellen.
  • Die Organisation muss sicherstellen, dass die Anforderungen ihres SGA-Managementsystems von Auftragnehmern und deren Beschäftigten erfüllt werden.“
  • Die Organisation muss sicherstellen, dass ihre Regelungen zur Ausgliederung mit den rechtlichen Verpflichtungen und anderen Anforderungen und den beabsichtigten Ergebnissen des SGA-Managementsystems übereinstimmen.

Die Beschaffung oder zumindest Verwendung von sicheren Arbeitsmitteln ist bislang auch schon durch die Betriebssicherheitsverordnung vorgeschrieben. Die obigen Prinzipien dehnen diese Pflicht der Organisation allg. auf die Beschaffung von Produkten und auch Dienstleistungen aus. Dies bedeutet insbesondere, dass ein Unternehmen sicherstellen muss, dass auch Auftragnehmer und deren Beschäftigte sich an den Arbeitsschutz halten. Eine vollständige Verantwortungsverlagerung auf den Auftragnehmer ist damit nicht mehr möglich. Das gilt allgemein – und somit auch für weltweite Lieferverhältnisse. Analoges gilt für die Ausgliederung von Betriebsteilen (Outsourcing): Auch hier verbleibt zumindest ein Teil der Verantwortung für den Arbeitsschutz im ausgegliederten Betriebsteil weiterhin im Unternehmen.

Konsultation und Beteiligung

Arbeitsschutz kann in einem Unternehmen nur dann bis auf die Ebene der Beschäftigten wirksam werden, wenn diese auch entsprechend einbezogen werden. Die Norm trägt dem Rechnung, indem sie die Beschäftigten bzw. deren Vertretung auf vielfältige Weise in die Prozesse einbezieht. Hierfür wird zunächst zwischen den folgenden beiden Arten von Einbeziehung unterschieden: 

  • Konsultation: Ansichten einholen, bevor eine Entscheidung getroffen wird 
  • Beteiligung: Einbeziehung in die Entscheidungsfindung

Die Norm legt in Abschnitt 5.4 „Konsultation und Beteiligung der Beschäftigten“ für die verschiedenen Prozesse des Arbeitsschutzmanagements bzw. deren Teilschritte fest, ob, wie und in welcher der beiden Formen die Beschäftigten einbezogen werden sollen. Die nachfolgende Tabelle führt einige davon beispielhaft auf:

Konsultation

 

Beteiligung

Festlegung der SGA-Politik

 

Ermitteln von Gefährdungen und

Bewertung von Risiken und Chancen 

Festlegung der SGA-Ziele 

 

Bestimmen von Maßnahmen zur Beseitigung von Gefährdungen

Bestimmen von geeigneten Steuerungs-maßnahmen zur Ausgliederung und der Beschaffung 

 

Bestimmen, was kommuniziert werden muss und wie

Bestimmen, was überwacht, gemessen und bewertet werden muss 

 

Untersuchung von Vorfällen

Sicherstellen einer fortlaufenden Verbesserung 

 

Bestimmen von Kompetenzanforderungen

Tabelle 2: Beispiele für Konsultation und Beteiligung der Beschäftigten

Die Konsultation bzw. Beteiligung muss nicht direkt erfolgen, sondern kann auch indirekt durch eine Personalvertretung erfolgen. Hier gilt es in der betrieblichen Praxis zu entscheiden, in welchen Fällen und in welchem Umfang eine direkte Einbeziehung der Beschäftigten sinnvoll ist oder wo doch eher einer indirekten Einbeziehung der Vorzug gegeben werden sollte. So ist es z.B. durchaus sinnvoll, an der Beurteilung der Arbeitsbedingungen die betroffenen Beschäftigten direkt zu beteiligen, da nur auf diese Weise die jeweils subjektiven Belastungsfaktoren ermittelt werden und in die Beurteilung einfließen können. Die direkte Beteiligung der Beschäftigten an der Beurteilung der Arbeitsbedingungen ist seitens der Arbeitsschutzgesetzgebung nicht verbindlich vorgegeben, daher bietet die Norm in diesem Punkt erhebliches neues Potential.

 Bewertung der Leistung

Betriebliches Arbeitsschutzmanagement bedarf einer kontinuierlichen Überwachung, Bewertung und ggf. Korrektur durch das oberste Management. Hierbei sind gemäß der Norm insbesondere die folgenden Aspekte zu behandeln: 

  • Erfordernisse und Erwartungen interessierter Parteien
  • Risiken und Chancen für das AMS bei internen und externen Themen im Zusammenhang mit Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit
  • die Leistungsfähigkeit des AMS selbst
  • das Ausmaß, in dem die SGA-Politik erfüllt und die SGA-Ziele erreicht wurden
  • Umfang und Leistung von Konsultation und Beteiligung von Beschäftigten

Die Einbeziehung der Beschäftigten spielt auch bei der Bewertung der Leistung des AMS eine bedeutende Rolle. So muss beispielweise die oberste Leitung nicht nur die erfolgte Konsultation und Beteiligung der Beschäftigten betrachten und bewerten, sondern das Ergebnis dieser Bewertung außerdem an die Beschäftigten zurückspiegeln. Womit wiederum die Basis für einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess auch in dieser Beziehung gelegt ist.

5. Weiterentwicklung der Normenreihe ISO 45001

Verantwortlich für die Entwicklung des Standards ISO 45001 innerhalb der Strukturen von ISO ist das Komitee ISO/TC 283 – Occupational health and safety management systems. Dieses Komitee hat sich die Weiterentwicklung des AMS-Standards zu einer ganzen Normenreihe zum Ziel gesetzt. Das bedeutet, dass aufbauend auf der ISO 45001 weitere Normen entwickelt werden, die das AMS von Unternehmen erweitern sollen. Hierbei werden zwar eigenständige Normen entwickelt, die allerdings so konzipiert sind, dass sie in ein schon bestehendes AMS nach ISO 45001 einfach integrierbar sind. Dies wird unter anderem dadurch ermöglicht, dass alle Normen der Reihe nach dem PDCA-Verfahren[9] aufgebaut sind.

Derzeit sind vier weitere Normen in dieser Reihe in der Entwicklung. Dabei werden speziellere Aspekte eines AMS behandelt. So befasst sich beispielsweise ISO 45003 mit den Gefahren psychischer Belastung am Arbeitsplatz. Problematisch hierbei ist, dass sich auch ein anderes Komitee innerhalb von ISO, und zwar ISO/TC 159 - General ergonomics principles, Normen zu psychischer Belastung entwickelt hat. Diese sind im Arbeitsschutz und dem betreffenden Präventionshandeln seit Jahren festverankert. Dies widerläuft dem Ziel von ISO, das Normenwerk kohärent aufzubauen und widerspruchfrei zu halten. Insbesondere von sozialpartnerschaftlicher Seite wurde national ebenso wie international auf die Notwendigkeit eines Informationsaustausches zwischen den TCs hingewiesen.

Normprojekt

Status

Geplante Veröffentlichung

ISO/CD 45002

Occupational health and safety management — General guidelines for the implementation of ISO 45001:2018 

Komitee Entwurfsphase

2022

ISO/FDIS 45003

Occupational health and safety management — Psychological health and safety at work: managing psychosocial risks — Guidelines

Inhaltlicher Entwurf bestätigt

Sommer 2021

ISO/AWI 45004

Occupational health and safety management — Guidelines on performance evaluation

Projektvorbereitung

Projekt wurde kürzlich erst registriert

ISO/PAS 45005:2020

Occupational health and safety management — General guidelines for safe working during the COVID-19 pandemic

veröffentlicht als PAS, Norm geplant

veröffentlicht 12-2020 als PAS

Tabelle 3: Übersicht über derzeit laufende Normprojekte des ISO/TC 283 [10]

In der Regel zieht sich die Erarbeitung von Normen über mehrere Jahre hin. Die Gründe hierfür sind die notwendige und für die Akzeptanz so wichtige Konsensbildung, sowie festgelegte Verfahren für die Veröffentlichung. Mitunter ist es bei drängenden Themen aber nötig, dass eine Veröffentlichung der Dokumente sehr schnell erfolgt. Ein sehr aktuelles Beispiel hierfür sind Pandemieleitfäden für Unternehmen, die Konzepte für einen sicheren Arbeitsbetrieb während der COVID-19-Pandemie bieten. Auch in der 45001er-Normenreihe wurde mit der ISO PAS 45005 ein Leitfaden für sicheres Arbeiten während einer Pandemie erstellt. Hierbei handelt es sich um eine sogenannte „Publicly Available Specification“ (PAS). Wichtig zu wissen ist, dass es sich bei einer solchen Spezifikation nicht um eine Norm im eigentlichen Sinne handelt. Hierzu fehlt es an Konsensbildung und die Beteiligung einer breiteren Öffentlichkeit. Damit können jedoch auch Partikularinteressen einfacher und deutlich schneller in normähnliche Dokumente umgesetzt werden. Im Falle der ISO PAS 45005 ist ebenfalls die zeitlich aufwendigere Weiterentwicklung zu einem ISO Standard vorgesehen. Durch die PAS ist der inhaltliche Rahmen für das Normungsvorhaben praktisch jedoch schon vorgegeben, daher besteht auch hierbei die Gefahr einer geringeren Beteiligung und Konsensbildung.

6. Zukunft von AMS auf Basis von ILO-Leitfaden und NLF

Mit der Veröffentlichung der Norm ISO 45001 sind zwei Umstände verbunden, die u.U. Einfluss auf die mittel- bis langfristige zukünftige Entwicklung von AMS auf der Basis von ILO-Leitfaden und Nationalem Leitfaden in Deutschland haben können:

Zum einen wird mit der internationalen Norm ISO 45001 der ursprüngliche Beweggrund für die Erstellung des ILO-Leitfadens, nämlich die seinerzeitige Ablehnung einer Normung im Bereich zu AMS durch ISO, nachträglich zwar obsolet. Dass der Leitfaden in absehbarer Zeit deswegen zurückgezogen und dem Nationalen Leitfaden damit die Basis entzogen werden könnte, ist derzeit jedoch nicht zu erwarten, da sich ILO trotz ihrer aktiven Mitarbeit letztendlich doch von der Norm distanziert hat. Die langfristige Entwicklung dazu bleibt allerdings abzuwarten.

Zum anderen könnte mit der neuen Norm ISO 45001 eine den Markt beherrschende oder zumindest stark beeinflussende Größe entstehen. Der ursprünglich rein britische Standard OHSAS 18001 hatte weltweit bereits größere Verbreitung gefunden, auch in Deutschland. Die neue Norm ISO 45001, die zu einem guten Teil auf diesem alten Standard basiert, dürfte daher zukünftig eine mindestens ebenso große, höchstwahrscheinlich jedoch noch weitaus größere Verbreitung finden und die nationalen AMS entsprechend unter Druck setzen. Hier bleibt für die Anbieter der nationalen AMS vorerst nur, die weitere Entwicklung auf dem Markt zu beobachten.

Die Unfallversicherungsträger haben beschlossen, zumindest solange wie die skizzierten möglichen Entwicklungen nicht zu erkennen sind, ihre AMS weiterhin und wie bisher anzubieten. Bei erfolgreicher Umsetzung des AMS erfolgt eine entsprechende Beurkundung, auf Wunsch mit optionalem Zusatz zu DIN ISO 45001, sofern das umgesetzte AMS zusätzlich auch die Anforderungen der Norm erfüllt. Beides erfolgt wie bisher weiterhin im nicht-akkreditierten Bereich.

7. Ausblick

Mit der 2018 veröffentlichten DIN ISO 45001 liegt nun einerseits eine internationale Norm zum AMS vor, die Unternehmen insbesondere im Zusammenhang mit anderen Managementsystem-Normen umfangreiches und teilweise neues Potential auf allen betrieblichen Ebenen bietet. Anderseits wurde damit eine weitere „Normungswelle“ angestoßen, deren Auswirkungen für die Unternehmen derzeit nur schwer abschätzbar sind. Der verständliche und nachvollziehbare Wunsch, für eine ständige Verbesserung von Sicherheut und Gesundheit bei der Arbeit zu sorgen, und zwar nach Möglichkeit weltweit und in globalen Lieferketten, trifft hier zudem auf die zunehmende Tendenz zu einer stärkeren Kommerzialisierung des Normungsgeschäfts, was zu einer zusätzlichen Dynamik führen kann. Die Zukunft der AMS auf Basis des Nationalen Leitfadens, die seitens der Bundesländer sowie der Unfallversicherungsträger angeboten werden, ist in diesem Spannungsfeld derzeit noch ungewiss. Gewiss ist jedoch, dass Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit nicht nur von rein kommerziellen Interessen gesteuert werden dürfen. Diesen Gegenpol zur einer kommerziellen AMS-Normung darzustellen, ist Anliegen und Aufgabe der nationalen Systeme. Entsprechendes Potential ist dafür mehr als ausreichend vorhanden.

Literatur

BAUA (2002) Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (Hrsg.). Leitfaden für Arbeitsschutzmanagementsysteme. Dortmund 2002

(https://www.dguv.de/medien/fb_org/dokumente/nat_leit_ams.pdf)

BMAS (2015) Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.). Grundsatzpapier zur Rolle der Normung im betrieblichen Arbeitsschutz. GMBl 1/2015; 2-6

(https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/normung-betrieblicher-arbeitsschutz-2015.pdf?__blob=publicationFile)

Bräunig, D.; Kohstall, Th. & Marx, U. (2018) Return on Prevention 2.0. Kosten und Nutzen von Arbeitsschutzmanagementsystemen für Unternehmen (Ergebnisbericht). VBG (Hrsg.), Hamburg 2018

(https://www.vbg.de/DE/3_Praevention_und_Arbeitshilfen/2_Themen/01_Arbeitsschutz_organisieren/1_Arbeitsschutz_mit_System_AMS/ROP_2.0/rop_node.html)

DGUV (2015) DGUV Grundsatz 311-002 „Arbeitsschutzmanagementsysteme – Managementsysteme für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit. Verfahrensgrundsatz für die Beratung und Begutachtung. Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (Hrsg.), Berlin 2015

(https://publikationen.dguv.de/regelwerk/dguv-grundsaetze/2902/arbeitsschutzmanagementsysteme-managementsysteme-fuer-sicherheit-und-gesundheit-bei-der-arbeit)

GDS (1993): Gemeinsamer Standpunkt des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung, der obersten Arbeitsschutzbehörden der Länder, der Träger der gesetzlichen Unfallversicherungen, der Sozialpartner sowie des DIN Deutsches Institut für Normung e.V. zur Normung im Bereich der auf Artikel 118a des EWG-Vertrags gestützten Richtlinien. In: Bundesarbeitsblatt 1/1993, S. 37-39.

(https://www.kan.de/fileadmin/Redaktion/Dokumente/Basisdokumente/de/Deu/GDS_de.PDF)

HMS (2015) Hessisches Ministerium für Soziales und Integration (Hrsg.). Leitfaden ASCA Arbeitsschutzmanagement, Wiesbaden 2015

(http://www.arbeitswelt.hessen.de/arbeitsschutz/organisation-des-betrieblichen-arbeitsschutzes/arbeitsschutzmanagement-mit-asca)

ILO (2001) Guidelines on occupational safety and health management systems.

International Labour Office, Geneva 2001

(http://www.ilo.ch/global/publications/ilo-bookstore/order-online/books/WCMS_PUBL_9221116344_EN/lang--en/index.htm) Deutsche Übersetzung: Leitfaden für Arbeitsschutzmanagementsysteme. Internationales Arbeitsamt, Genf 2001

(https://www.dguv.de/medien/fb_org/dokumente/ilo_leit_ams.pdf)

Parker, D.; Lawrie, M.  & Hudson, P. (2006). A framework for understanding the development of organisational safety culture. Safety Science Vol. 44, No. 6 (2006) 551–562

(https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0925753505001219?via%3Dihub)

STMAS (2018) Bayerisches Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales (Hrsg.). Das OHRIS-Gesamtkonzept. Arbeitsschutz mit System, München 2018

(https://www.lgl.bayern.de/arbeitsschutz/managementsysteme/ohris/index.htm)

VFA (1997) Zur Problematik der Normung von Arbeitsschutzmanagementsystemen. Verein zur Förderung der Arbeitssicherheit (Hrsg.), KAN-Bericht 11, Sankt Augustin 1997

(https://www.kan.de/fileadmin/Redaktion/Dokumente/KAN-Studie/de/1997_KAN-Studie_AMS.pdf)

[1] Occupational Health- and Risk-Managementsystem OHRIS (STMAS 2018)

[2] Arbeitsschutz und Sicherheitstechnischer Check in Anlagen ASCA (HMS 2015)

[3] Der quintas zugrundeliegende akkreditierte Standard sind die „Managementanforderungen der BGW zum Arbeitsschutz MAAS-BGW“ (https://www.bgw-online.de/DE/Arbeitssicherheit-Gesundheitsschutz/Arbeitsschutz-mit-System/quintas/quintas-Produkt/Produkt.html).

[4] Siehe hierzu GDA-Leitlinie „Organisation des betrieblichen Arbeitsschutzes“, Abschn. 4.4.3 (https://www.gda-portal.de/DE/Aufsichtshandeln/Organisation/Organisation_node.html)

[5] Siehe hierzu die Umstellungsanleitung der DAkkS Abschnitt 2.3 (https://www.dakks.de/sites/default/files/dokumente/dakks-umstellungsanleitung_45001_20180312_v1.0.pdf). Für die durch die Covid-19 Pandemie bedingte Verlängerung der Übergangsfrist vom ursprünglich 12.3.2021 auf den 31.9.2021 siehe die FAQ des International Accreditation Forum IAF, Frage 15 (https://www.iaf.nu/articles/IAF-information-on-COVID-19/641).

[6] Quelle: dgmk.de (Stand: Oktober 2020)

[7] Siehe hierzu (https://www.dguv.de/fb-org/sachgebiete/integration/scl/index.jsp)

[8] SGA steht dabei für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit. Diese Abkürzung wird im Normtext durchgehend verwendet.

[9] PDCA für Plan-Do-Check-Act, in der deutschen Fachliteratur auch als Demingkreis bezeichnet.

[10] Quelle: iso.org (Januar 2021), siehe auch (https://www.iso.org/committee/4857129/x/catalogue/p/1/u/1/w/0/d/0

Autoren:

Markus Kohn, Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung DGUV

Freeric Meier, KAN Kommission Arbeitsschutz und Normung