DGUV Risikoobservatorium – das Früherkennungssystem für Risiken in der Arbeitswelt von morgen

von Sebastian Riebe und Ina Neitzner zuletzt geändert: 2019-04-30T12:49:08+01:00
Das DGUV Risikoobservatorium fragt nach zentralen Entwicklungen in der Arbeitswelt und nach neuen Risiken am Arbeitsplatz, in Kindertagesstätten, Schulen und Hochschulen. Ziel ist eine im Vorgriff wirksame, proaktive Prävention. Für die Sifa-Community hat Sebastian Riebe mit der Leiterin des Referates „Wissenschaftliche Kooperationen“ im Institut für Arbeitsschutz (IFA) der DGUV, Frau Ina Neitzner, gesprochen. Die studierte Übersetzerin ist bereits seit mehr als 25 Jahren im Institut tätig und koordiniert neben ihrer fachlichen Arbeit im Risikoobservatorium die Außendarstellung des IFA.

Sebastian Riebe: Guten Tag Frau Neitzner, vielen Dank, dass Sie Zeit haben für dieses Gespräch. Warum gibt es dieses DGUV Risikoobservatorium?

Ina Neitzner: In der Regel ist es ja so, dass ein Problem sich erst manifestiert haben muss – im Falle der gesetzlichen Unfallversicherung in Form von Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten – bevor Präventionsmaßnahmen entwickelt werden. Mit dem Risikoobservatorium wollen wir Probleme bereits im Vorgriff erkennen und in Prävention überführen – damit die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten möglichst erst gar nicht betroffen ist. Proaktive Prävention ist das Stichwort.

Sebastian Riebe: 2013 haben Sie mit Ihrem Institut eine erste Befragungsrunde mit Experten und Expertinnen durchgeführt. Im Frühjahr 2017 ist die zweite Befragungsrunde des DGUV Risikoobservatoriums gestartet. Was sind die zentralen Ergebnisse?

Ina Neitzner: 2013 wie jetzt ging und geht es darum, für jeden Unfallversicherungsträger und seine wichtigsten Branchen Top-Themen zu identifizieren, die aus Sicht der befragten Präventionsfachleute für die Prävention der nächsten circa fünf Jahre eine besondere Rolle spielen. Hier bekommt dann jede Berufsgenossenschaft und jede Unfallkasse individuelle Ergebnisse. In der ersten Befragung konnten wir zeigen, dass über alle Branchen und Unfallversicherungsträger Themen wie Arbeitsverdichtung, demografischer Wandel und Digitalisierung ganz vorne lagen. Das war ein wichtiges Signal, dass die Diskussion um Arbeiten 4.0 tatsächlich auch im Arbeitsschutz angekommen ist. Erstaunlich war damals, dass alte Bekannte, konkret Lärm und ergonomische Belastungen, ebenfalls unter den ersten 10 von 94 Entwicklungen gelandet waren. Besonders überrascht hat uns allerdings, dass auch Ernährung und Freizeitverhalten unter den Top 10 zu finden waren, denn das sind Bereiche, auf die die gesetzliche Unfallversicherung gemäß ihrem Auftrag keinen direkten Einfluss hat. Die neue Befragungsrunde läuft noch. Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass weitere, ich nenne sie mal übergeordnete Themen für die Sicherheit und Gesundheit der Menschen bei der Arbeit, relevant werden. Also Themen, die wie Ernährung und Freizeitverhalten, nicht in die Zuständigkeit der gesetzlichen Unfallversicherung fallen. Und natürlich finden sich Stichworte wie Arbeitsverdichtung oder Fachkräftemangel wieder sehr weit oben auf der Liste für viele der bereits befragten Branchen.

Sebastian Riebe: Sie sprechen hier auch konkret den Wandel an. Wie verändern sich die Arbeitsbedingungen und welche neuen Risiken gibt es denn konkret?

Ina Neitzner: Es geht gar nicht so sehr um einzelne Risiken, sondern darum, dass die Fülle der arbeitsschutzrelevanten Faktoren zunimmt. Viele dieser Faktoren bedingen und beeinflussen sich gegenseitig. So sind zum Beispiel Arbeitsverdichtung und Fachkräftemangel in der Regel eng miteinander verknüpft. Oder auch Muskel-Skelettbelastungen, Inaktivität bei der Arbeit und ungesunde Ernährung. Auch die teils belastenden Folgen der Entwicklungen spielen zusammen. So können Belastungen der Wirbelsäule und Stress ungünstig zusammenwirken und sich gegenseitig verstärken oder auch Lärm und Gefahrstoffe, die gleichzeitig am Arbeitsplatz auftreten.

Hinzu kommen die bereits erwähnten unfallversicherungsfernen Faktoren, wie gesellschaftliche Wertestandards oder globale Migrationsbewegungen. Grundsätzlich ist also zu sagen: Der Arbeitsschutz muss sehr viel stärker interdisziplinär denken. Das System Arbeit muss als Ganzes betrachtet werden, um Interaktionen zu verstehen. Vor allem muss sichere und gesunde Arbeit vom Menschen aus überlegt werden, seine Möglichkeiten, Bedürfnisse und Grenzen in Bezug nehmen. Konkret heißt das: Kombinationswirkungen erforschen, Arbeit alters- und alternsgerecht gestalten, innovative Technologien und Hilfsmittel wie Exoskelette oder Datenbrillen menschengerecht designen und einsetzen, Beinahe-Unfälle untersuchen, Wissen zeitgemäß und bedürfnisgerecht vermitteln, Präventionskultur fördern.

Sebastian Riebe: Das klingt alles sehr spannend. Wie sind denn Unternehmen, aber auch wir Arbeitsschützer, wenn ich uns mal so nennen kann, bisher darauf eingestellt? Sind wir fit für die Zukunft?

Ina Neitzner: Hierzu kann ich nur eine persönliche Meinung äußern: Für meinen Geschmack lassen wir zu viel einfach geschehen. Digitalisierung und Automatisierung sind Prozesse, die nicht autark ablaufen. Der Mensch steuert sie. Das heißt, er kann entscheiden, wieviel er wovon zulässt. Und das Maß der Dinge sollte der Mensch selber sein. Was tut ihm gut und hilft ihm? Was schadet und bedrängt ihn? Ich glaube, erst wenn das alle erkannt haben und bereit sind zu leben, sind wir fit für die Zukunft.

Sebastian Riebe: Das Risiko-Observatorium gibt es ja noch nicht so lange. Wie wird das Risikoobservatorium in der Praxis genutzt? Kommen die Ergebnisse bei den Unternehmen und den Experten und Expertinnen an?

Ina Neitzner: Das Risikoobservatorium richtet sich nicht unmittelbar an die Betriebe, sondern an die zuständigen Berufsgenossenschaften und Unfallkassen. Diese erhalten von uns nicht nur eine Liste relevanter Entwicklungen. Sie bekommen auch ein sogenanntes Branchenbild, dass diese Entwicklungen in einen Gesamtzusammenhang mit den wirtschaftlichen, technischen und sozialpolitischen Veränderungen der jeweiligen Branche bringt. Zusätzlich gibt es eine umfangreiche Liste konkreter Präventionsvorschläge. Es ist dann an den einzelnen Unfallversicherungsträgern für ihre Betriebe aktiv zu werden. Wir liefern das Rüstzeug.

Sebastian Riebe: Jetzt führen wir dieses Gespräch ja im Kontext der Sifa-Community. Wie können Fachkräfte für Arbeitssicherheit in der Beratung und Unterstützung der Betriebe diese Ergebnisse nutzen?

Ina Neitzner: Die Branchenbilder des Risikoobservatoriums vermitteln einen guten Eindruck davon, wohin die Reise in Sachen Arbeitsschutzschwerpunkte geht. Sifas kann das helfen, ihre Bemühungen besser auf die wesentlichen Themen zu fokussieren.

Sebastian Riebe: Und was heißt das für die Fortbildung von Sifas? Können Sie hierzu ein paar Tipps geben?

Ina Neitzner: Ich habe es oben bereits gesagt: Ganzheitlich denken, in Kombinationswirkungen denken, Kooperationen mit anderen Disziplinen suchen, sprich gezielte Netzwerke knüpfen, vom Menschen aus denken, also psychosoziale Kompetenzen fördern. Und natürlich bedeutet das auch, sich permanent auf Stand zu halten über den technischen Fortschritt in der eigenen Branche bzw. im eigenen Betrieb.

Sebastian Riebe: Das waren jetzt viele interessante Punkte, die man als Fachkraft für Arbeitssicherheit sicher auch für die eigene Arbeit nutzen kann. Ich ziehe daraus den Schluss, dass man als Sifa das Risikoobservatorium der DGUV auf dem Schirm haben muss, um Entwicklungen in den Branchen zu erkennen und eigene Fortbildungsthemen zu identifizieren. Ich bedanke mich recht herzlich für das Gespräch!

Das DGUV-Risikoobservatorium mit den Befragungsergebnissen und den Branchenbildern finden Sie auf: https://www.dguv.de/ifa/fachinfos/arbeiten-4.0/risikoobservatorium/index.jsp

Sie können hier in der Kommentarspalte zum Thema zu diskutieren oder bis 10. Mai 2019 Fragen an Frau Neitzner stellen, die hier darauf antwortet. Über ein Feedback würden wir uns freuen.