Stellenwert von arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen im Arbeitsschutz

von Katrin Höhn zuletzt geändert: 2021-01-08T15:16:21+01:00
Arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse leisten einen wichtigen Beitrag zur wirtschaftlichen und humanen Gestaltung von Arbeitssystemen. Aufgrund deren zunehmender Ausdifferenzierung steigt gerade der Bedarf, arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse für die Gestaltung einzusetzen. Durch die unterschiedlichen Themen der Arbeitsforschung sind viele Erkenntnisse vorhanden, welche in der Betriebspraxis und für die gesellschaftliche Diskussion genutzt werden können. Immer wieder taucht dabei die Frage auf, welchen Stellenwert welche Erkenntnisse aufweisen. Dabei ist auch zu klären, welche Bedeutung sie für die Arbeit der Fachkräfte für Arbeitssicherheit haben. (Martin Schmauder - Technische Universität Dresden)

Begriffsbestimmungen

Die gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse müssen in die Begriffswelt der Arbeitswissenschaft und des Arbeitsschutzes eingeordnet werden. Es gibt weitere, teilweise ähnliche Begriffe, die ggf. in einem unterschiedlichen Kontext eine unterschiedliche Bedeutung haben können.

Der „Stand der Technik” ist der Entwicklungsstand fortschrittlicher Verfahren, Einrichtungen oder Betriebsweisen, der die praktische Eignung einer Maßnahme zum Schutz der Gesundheit und zur Sicherheit der Beschäftigten gesichert erscheinen lässt. Bei der Bestimmung des Standes der Technik sind insbesondere vergleichbare Verfahren, Einrichtungen oder Betriebsweisen heranzuziehen, die mit Erfolg in der Praxis erprobt worden sind. Gleiches gilt für die Anforderungen an die Arbeitsmedizin und die Arbeitsplatzhygiene (Quelle: Begriffsglossar zu den Regelwerken der Betriebssicherheitsverordnung, der Biostoffverordnung und der Gefahrstoffverordnung [1]).

Als „wissenschaftliche Erkenntnisse" gelten alle Erkenntnisse, die mit wissenschaftlichen Methoden gewonnen wurden. Dabei werden je nach Fach unterschiedliche Methoden als angemessen angesehen. In Bezug auf „arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse" sind unter anderem Erkenntnisse aus den Fachbereichen Medizin, Psychologie und Sozialwissenschaften relevant. In diesen Fächern werden Erkenntnisse meist empirisch gewonnen, das heißt es kommt zu einer systematischen Informationssammlung im Labor oder in der Praxis. Diese empirisch gewonnenen Informationen werden im Anschluss mit statistischen Methoden abgesichert.

Diese „wissenschaftlichen Erkenntnisse" können jedoch noch nicht automatisch als „gesichert" betrachtet werden. Um als „gesichert" zu gelten, müssen sie zusätzliche Kriterien erfüllen. Welche Kriterien genau erfüllt sein müssen, ist eine umstrittene Frage. Im Fall der „arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse" werden nach Kohte [2] oft folgende zwei Bedingungen genannt:

  1. Die Mehrheit der Fachleute bzw. maßgebliche Vertreter des jeweiligen wissenschaftlichen Faches sind von der Richtigkeit der Erkenntnisse überzeugt.
  2. Die Erkenntnisse haben sich in der betrieblichen Praxis bewährt. In der konkreten Rechtsprechung wurde oft eine praktische Erprobung und Bewährung der Erkenntnisse verlangt, damit sie das Kriterium der Gesichertheit erfüllen. Dabei genügt es jedoch, wenn sich die Erkenntnisse in einem oder einigen wenigen Betrieben bewährt haben und dort durch die Berücksichtigung der Erkenntnisse eine Verbesserung des Gesundheitsschutzes festgestellt werden konnte.

Als „Stand von Wissenschaft und Technik” wird der neueste Stand von wissenschaftlich-technischen Erkenntnissen bezeichnet, die bislang noch nicht in der Praxis umgesetzt sind, aber durch Forschung und Experimente erprobt sind [3]

Arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse im Vorschriften- und Regelwerk

Bei Maßnahmen zur Verbesserung von Sicherheit und Gesundheitsschutz im Betrieb sind gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse zu berücksichtigen. Folgende Beispiele aus dem Vorschriften- und Regelwerk sollen dieses verdeutlichen:

  • Arbeitsschutzgesetz § 4 Allgemeine Grundsätze
    Der Arbeitgeber hat bei Maßnahmen des Arbeitsschutzes von folgenden allgemeinen Grundsätzen auszugehen:
    1. Die Arbeit ist so zu gestalten, dass eine Gefährdung für das Leben sowie die physische und die psychische Gesundheit möglichst vermieden und die verbleibende Gefährdung möglichst gering gehalten wird;
    2. Gefahren sind an ihrer Quelle zu bekämpfen;
    3. bei den Maßnahmen sind der Stand von Technik, Arbeitsmedizin und Hygiene sowie sonstige gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse zu berücksichtigen; …
  • Betriebsverfassungsgesetz §90
    (2) Der Arbeitgeber hat mit dem Betriebsrat die vorgesehenen Maßnahmen und ihre Auswirkungen auf die Arbeitnehmer, insbesondere auf die Art ihrer Arbeit sowie die sich daraus ergebenden Anforderungen an die Arbeitnehmer so rechtzeitig zu beraten, dass Vorschläge und Bedenken des Betriebsrats bei der Planung berücksichtigt werden können. Arbeitgeber und Betriebsrat sollen dabei auch die gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse über die menschengerechte Gestaltung der Arbeit berücksichtigen.
  • Arbeitszeitgesetz §6, Abs. 1
    Die Arbeitszeit der Nacht- und Schichtarbeitnehmer ist nach den gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen über die menschengerechte Gestaltung der Arbeit festzulegen.

Gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse werden zur Ermittlung des Standes der Technik bei der Regelsetzung herangezogen. So sind gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse u. a. in den Technischen Regeln zur Betriebssicherheit (TRBS), den Technischen Regeln für Arbeitsstätten (ASR), den Technischen Regeln für die Lärm- und Vibrationsarbeitsschutzverordnung (TRLV) sowie in weiteren Technischen Regeln und DGUV-Vorschriften enthalten.

Im Eingangstext der Technischen Regeln für Arbeitsstätten (und auch sinngemäß in den weiteren Technischen Regeln) wird z. B. ausgeführt: „Die Technischen Regeln für Arbeitsstätten (ASR) geben den Stand der Technik, Arbeitsmedizin und Arbeitshygiene sowie sonstige gesicherte (arbeits)wissenschaftliche Erkenntnisse für das Einrichten und Betreiben von Arbeitsstätten wieder. …..“

Gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse haben daher eine hohe Relevanz für den Stand von Sicherheit und Gesundheitsschutz im Betrieb. Eine gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnis für sich löst jedoch noch keine Vermutungswirkung aus. Dieses bleibt den vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) bekanntgegebenen Technischen Regeln vorbehalten. Vermutungswirkung bedeutet, dass bei der Anwendung der Regel vermutet werden kann, dass die in der Verordnung bzw. dem Gesetz vorgegebenen Anforderungen erfüllt werden kann. Ein Nachweis ist nicht notwendig.

Arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse sind weiterhin auch in diversen Leitlinien, Regeln, Empfehlungen usw. enthalten, wie z. B.:

  • Arbeitsmedizinische Leitlinien, Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Arbeits- und Umweltmedizin e. V. (DGAUM) und der GFA, Leitlinien der DGAUM
  • EmpfBS - Empfehlungen zur Betriebssicherheit (Herausgeber: BMAS)
  • Empfehlungen des Ausschusses für Arbeitsstätten (Herausgeber: BMAS)
  • DGUV-Regeln, DGUV-Informationen

Wissenschaftliche Erkenntnisse kann jede Fachdisziplin erarbeiten und veröffentlichen. Arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse entstehen im Rahmen der vielfältigen arbeitswissenschaftlichen Forschung.

Kriterien für arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse

In Anlehnung an die begriffliche Einordnung, die Qualitätsstufen der Arbeitsmedizinischen Leitlinien [4] sowie der im BAuA-Projekt „Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt“ [5] aufgeführten Hierarchie der Gestaltung von psychischen Belastungen im Arbeitssystem werden unterschiedliche Qualitätsstufen von Erkenntnissen definiert. Damit soll dem unterschiedlichen Erkenntnisstand zu einzelnen Themen Rechnung getragen werden.

Folgende drei Anforderungen müssen mit einem unterschiedlichen Anspruchsniveau erfüllt sein:

  • Evidenzbasierte Erkenntnis:
    Evidenz setzt wissenschaftliche, also methodisch bestimmte und theoriebasierte Beweise und Belege voraus. Für arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse muss mindestens eine systematische Übersichtsarbeit (Metaanalyse) vorliegen, welche Quellen aus unterschiedlichen Forschungseinrichtungen einbezieht.
  • Praktisch bewährt:
    Nicht nur einzelne Betriebe haben die Erkenntnisse angewandt und umgesetzt, sondern eine größere Anzahl. Eine positive Wirkung konnte nachgewiesen werden (Evaluation, Wirkungskontrolle).
  • Empirisch begründet:
    Eine statistisch fundierte Angabe zur Qualität (Verlässlichkeit) der Ergebnisse muss nach wissenschaftlichen Standards dokumentiert sein.

Fazit:

Durch die Umsetzung von Maßnahmen die im Vorschriften- und Regelwerk enthalten sind, entsteht Vermutungswirkung. Werden bei der Gestaltung von Arbeit die vielfältig vorhandenen arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse verwendet, dann kann bei der Beurteilung der Arbeitsbedingungen auf gesicherte Erkenntnisse zurückgegriffen werden und es müssen nicht eigene Risikobetrachtungen durchgeführt werden. Wenn Maßstäbe zur Beurteilung der Arbeitsbedingungen erforderlich sind, dann gilt die unten abgebildete Hierarchie.

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Abb.: Vorgehensweise zur Ableitung von Maßstäben zur Beurteilung der Arbeitsbedingungen (in Anlehnung an die ASR V3)

Somit bilden arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse, die ins Technische Regelwerk, in Leitlinien, Empfehlungen u.ä. Eingang gefunden haben, für die Arbeit der Fachkräfte für Arbeitssicherheit eine wesentliche Basis. Insbesondere im Gestaltungsprozess von Arbeitssystemen können sich Fachkräfte auf diese Erkenntnisse stützen.

[1] https://www.baua.de/DE/Angebote/Rechtstexte-und-Technische-Regeln/Regelwerk/Glossar/Glossar_table.html?lv2=8666330

[2] Quelle: Prof. Dr. W. Kohte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Juristische Fakultät (2007). Fachvortrag beim GfA-Frühjahrskongress 2007: Die juristischen Implikationen von Leitlinien

[3]Vgl. § 7 Abs. 2 Nr. 34 Atomgesetz sowie § 6 Abs. 2 Gentechnikgesetz

[4] AMWF – Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V.: Das AMWF-Regelwerk Leitlinien (https://www.awmf.org/leitlinien/awmf-regelwerk.html)

[5] Rothe, I.; Adolph, L.; Beermann, B.; Schütte, M.; Windel, A.; Grewer, A.; Lenhardt, U.; Michel, J.; Thomson, B.; Formazin, M.: Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt - Wissenschaftliche Standortbestimmung. Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 2017.

Autor:

Prof. Dr.-Ing. Martin Schmauder

TU Dresden, Institut für Technische Logistik und Arbeitssysteme

Inhaber der Professur für Arbeitswissenschaft